Gusel Jachina: Wolgakinder

  Überraschend

Wolgakinder, der zweite Roman der 1977 an der Wolga geborenen russischen Autorin Gusel Jachina, war für mich vor allem eines: vollkommen anders als erwartet. Eigentlich wollte ich einen Roman über die Volksgruppe der Wolgadeutschen vor dem Zweiten Weltkrieg lesen, bekommen habe ich stattdessen eine märchenhaft anmutende Geschichte über einen Sonderling. Nachdem ich damit etwa 100 Seiten lang gehadert hatte, beschloss ich, mich ganz darauf einzulassen – und daraufhin wurde die Lektüre des knapp 600 Seiten umfassenden Buches dann doch noch ein Gewinn. Großartig sind die Beschreibungen der Wolga und die Bilder, die Gusel Jachina findet, allerdings stellte sich mit der Zeit aufgrund ihrer Fülle auch ein gewisser Überdruss ein. Nicht einfach zu lesen sind die vier Einschübe über Stalin, genannt „Er“. Die Autorin lässt „Ihn“ beispielsweise an Lenins Sterbebett auftauchen oder im November 1934 ein fiktives Billardspiel gegen Hitler austragen mit den Wolgadeutschen als Spielball. Dieses Hin und Her mit Treffern auf beiden Seiten ist eigentlich eine geniale Idee und inhaltlich sehr interessant, geht aber mit einem extremen Stilbruch einher.

Im Mittelpunkt des 1916 beginnenden Romans steht der Dorflehrer Jakob Iwanowitsch Bach, der im wolgadeutschen Dorf Gnadental die Kinder unterrichtet. Eines Tages zitiert ihn der Besitzer eines Gehöfts am anderen Wolgaufer zu sich, wo er dessen hinter einem Wandschirm verborgene 17-jährige Tochter Klara unterrichten soll. Mit der Liebe zu ihr endet Jakobs beschauliches Dasein als Schulmeister. Im Dorf geächtet, müssen sie wie Einsiedler auf dem mittlerweile verwaisten Gehöft leben, bis ein räuberischer Überfall alles verändert.

Viele Ideen der Autorin haben mir gut gefallen, so zum Beispiel, wie der inzwischen verstummte Jakob seine zu Papier gebrachten Geschichten in Gnadental gegen Milch eintauscht, wie er jedem Jahr einen aussagekräftigen Namen gibt, wie er ein Mädchen alleine großzieht und ihr nicht nur die Sprache, sondern auch jeden Kontakt zur Welt vorenthält, und wie die Welt dann doch noch auf den abgeschiedenen Hof kommt, zuerst in Person eines Straßenjungen, dann der Staatsgewalt. Allerdings waren mir manche Entwicklungen auch zu skurril und mit Bildern überfrachtet. Richtig geärgert habe ich mich, als es über eine soeben vergewaltigte Frau hieß: „Die Augen waren geschlossen, die Gesichtszüge ruhig – sie schlief. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln.“ Diese Sätze sind extrem geschmacklos angesichts des Leids aller Betroffenen.

Ein sprachlich überbordender, enorm bildreicher Roman mit einem sehr stimmigen Cover, den ich mehr als Märchen denn als Zeugnis über die Wolgadeutschen gelesen habe.

Gusel Jachina: Wolgakinder. Aufbau 2019
www.aufbau-verlag.de

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